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2008-11-08 Beweinungen PDF Drucken E-Mail
Ressort Schauplatz-Hof -Erschienen am 11.11.2008
Balsam gegen den Seelenschmerz
 
Chorkonzert | Ensembles aus Hof und Nürnberg führen bewegend aus Trauer zum Trost.
Von Michael Thumser
 

Hof – Das sei „eine Sache zwischen mir und Gott“, entschied Frank Martin; und sperrte 1926 seine A-cappella-Messe in die Schublade weg: „Das geht niemanden anderen etwas an.“ So ernst meinte es der Schweizer Komponist, dass erst knapp vierzig Jahre später das Manuskript aus dem Privatissimum ans Licht der Musikwelt zurückfand. Die fragt sich seit der Hamburger Uraufführung 1963, ob Tonkunst von solcher Feinheit, Wahrheit, Größe nicht von Anfang an allen gehört. Das Publikum in der so gut wie voll besetzten Hofer St. Lorenzkirche fragte sich’s vielleicht auch: Hier erklang das einzigartige Werk nun wohl zum allerersten Mal in der Region, und der Eindruck war gewaltig.

Konzertphoto

Eine Messe für zwei Mal vier Stimmen – der Kammerchor Hof hat sich dafür mit dem Vokalensemble Josquin des Prés aus Nürnberg verbunden. Ungehindert gelingt die Allianz, steht doch beiden Chören der Hofer Wolfgang Weser vor. Unter seiner gespannten Lenkung agieren die Vokalisten klangintensiv, gleichwohl abwägend als ein Ganzes von hoher Trennschärfe und Eindeutigkeit, beeindruckender Fahlheit oder Vielfalt der Farben, verständiger Einsicht in die Texte und ihre Theologie. Die zeitweilig extremen Anforderungen an Stimmtechnik, Hörvermögen, Ausdrucksbereitschaft merkt man den Sängern nicht an.

„Beweinungen“ überschrieb Wolfgang Weser den exquisiten Abend, der sich ans Abschieds- und Endzeitthema des ausgehenden Kirchenjahres fügt: ein ergreifendes Leichenbegängnis, in Hoffnung mündend. Mit zwei Orgelpartiten – von Samuel Scheidt aus dem frühen 17. und Karl Höller aus dem 20. Jahrhundert – ordnet sich Kantor Georg Stanek instrumental ins Konzept ein: zwei Mal Charaktervariationen, die das Spektrum des Kummers ausschreiten von lähmender Lethargie zum aufbegehrenden Trotz und feierlichen Sich-Abfinden. Die Worte der Sätze – teils von beiden Ensembles gemeinsam, teils von je einem allein intoniert entstammen zumeist dem Alten Testament. Bei einem Karwochen-Responsorium von Carlo Gesualdo di Venosa treten die Chöre in einen Dialog von unwirtlicher Ruhe wie beim Gang durch einen langen, schweren Schatten. Tote Väter, tote Söhne: In einer Motette Melchior Francks betrauern die Hofer den Stammvater Jakob; in „When David heard“ von dem 38-jährigen Eric Whitacre stimmen die Nürnberger die Klage des Königs um Absalom an – ein befremdend-aufregendes Mosaik aus Seufzen, Stocken und Schluchzen, aus irisierenden Tonclustern und Verstummen in fassungslosen Pausen.

Zuviel Schmerz beinah; Trost muss folgen; und folgt. In Martins doppelchöriger Messe befreien die 37 Sänger – aus deren stets fest, nie kompakt geschlossenen Reihen bisweilen Solistengruppen heraustreten – sich und ihr Publikum mehr und mehr zu Erleichterung und Erlöstheit. Jeden geht das an – das machen die Interpreten deutlich ohne Übertreibung in der Gemütsbewegung, ohne Furcht vor Tempo-, Metrums-, Rhythmuswechseln.

Vollkommen präsent und plausibel, in allen Übergängen nachvollziehbar formen sie die neobarocke Satzkunst des Werks, seine Offenherzigkeit, seinen archaischen Wohllaut aus, der sich zuletzt, im schmerzstillend balsamischen „Agnus Dei“, stofflos verklärt. Ganz und gar lassen sie den bekennenden, bittenden Text in den Tönen aufgehen: ununterscheidbar, wo die Schönheit der Musik endet und die Tiefe der reinen Botschaft beginnt.

 

Quelle: http://www.frankenpost.de/nachrichten/kultur-fp/schauplatz-hof/art2434,925641

Aktualisiert ( Dienstag, 11. November 2008 09:32 )
 

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