Mutter, wozu hast du deinen Sohn aufgezogen? Hast dich zwanzig Jahr mit ihm gequält? Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen, und du hast ihm leise was erzählt? Bis sie ihn dir weggenommen haben. Für den Graben, Mutter, für den Graben. ( aus: Der Graben, Kurt Tucholsky 1926) Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen (Mt 5,9). Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihren Mühen; denn ihre Werke folgen ihnen nach (Offb 14, 13). Über allen Gipfeln ist Ruh’ Über allen Wipfeln spürest du Kaum einen Hauch. Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur! Balde Ruhest du auch. (Wanderers Nachtlied, J.W. von Goethe) Die Litanei vom Hauch ist unser Versuch, eine Brücke zu schlagen vom Volkstrauertag (erstmals 1925 als Gedenktag für die Gefallenen des 1. Weltkrieges begangen) zum Totensonntag und am Ende des Kirchenjahres damit aller Toten zu gedenken, der sanft Entschlafenen ebenso wie der Opfer von kriegerischer Auseinandersetzung, Terror, Agitation und Propaganda. Abschnitte der lateinischen Totenmessen von Richafort, Victoria und Pizettti werden expressiven Kompositionen des 20. Jahrhunderts gegenübergestellt, die als Reaktion auf Weltkrieg, Revolution oder Militärdiktatur entstanden. Hanns Eislers titelgebende Komposition fußt auf Bertold Brechts Gedicht von 1926, welches in drastischen Bildern bayerische Nachkriegsgeschichte von der Hungersnot 1917/1918 über die Räterepublik bis zum Aufkommen nationalsozialistischer Gewalt beschreibt. Der Schönberg-Schüler Eisler vermeidet in seinen Werken jede Anbiederung, seine politische - marxistische - Haltung bleibt unverhohlen, seine Radikalität spiegelt sich in rhythmischer Prägnanz und Energie, in Expressivität und Verbindung von Atonalität mit populärer Tonsprache unter Einbeziehung traditionellen Formen und Zitate. Die Ablehnung des klassischen Bildungskanons gipfelt in der vollkommenen Pervertierung des wohl berühmtesten Goethe-Gedichtes Wanderers Nachtlied, welches literarisch und musikalisch litaneiartig die von Agitprop geprägten Strophen kontrastiert. Wenn wir in der Nr.2 derselben Opus-Zahl singen und hören müssen: „aber wir müssen töten lernen,… wir müssen Blut vergießen, damit kein Blut mehr vergossen wird”, dann ist dies eine Zumutung, die uns schonungslos in das moralische und hochaktuelle Dilemma zwischen Friedfertigkeit und Widerstandsrecht, zwischen Nächstenliebe und Zivilcourage hineinstößt und wie ein Kommentar zur gescheiterten Appeasement-Politik der 30er Jahre wirkt. Der surrealistische französische Dichter Paul Eluard schloss sich im zweiten Weltkrieg der Résistance an und verfasste die literarische Grundlage zu Figure humaine, der Kantate für gemischten Doppelchor von Francis Poulenc aus dem Jahr 1943. Die Nummer 5 dieses „Plädoyers für die Menschlichkeit” (Herve Lacombe) treibt angesichts des Wahnsinns des Krieges Tucholskys Frage ins Groteske: Den Himmel und die Planeten verlachend, den Mund wässrig gemacht mit Zuversicht, wünschen sich die Artigen Söhne und Söhne von ihren Söhnen, bis sie abgekämpft zugrunde gehen. Das Warten fällt nur den Narren schwer, es grünt nur der Abgrund, und die Artigen machen sich lächerlich. International in erster Linie durch Filmmusik bekannt, ist ein weiterer Komponist in Griechenland auch und v.a. ein Symbol für Widerstand gegen jede Form von Diktatur und Unterdrückung. Mikis Theodorakis widmet 1982 seine Liturgie Den Kindern, getötet in Kriegen. Das Abendgebet aus genannter Liturgie rundet den politisch-weltlichen Anteil des Konzertes und führt hinüber in die theologischen Reflexionen. 1922 entstand die Messa di Requiem von Ildebrando Pizzetti (1880-1968), einem italienischen Vertreter des Neoklassizismus. Im Gegensatz zu Eisler oder Theodorakis identifizierte er sich mit dem rechten Rand des Parteienspektrums und stellte seine Musik durchaus auch in den Dienst der faschistischen Ideologie. Unklar bleibt, ob sein Requiem eine Reaktion auf private oder politische Ereignisse darstellt. Eine fast gregorianisch anmutende, einstimmige Eingangspassage führt im Kyrie dieser Messe zu dichter, teils fugierter Polyphonie, die Pizzettis Ruf als großen Vokalkomponisten begründete. Ihm gegenübergestellt werden drei Granden der Renaissance, deren Trauermusiken aus persönlicher Betroffenheit und/oder ihren Beziehungen zum spanischen Hof erwuchsen. Tomas Luis da Victoria (1548-1611) schuf mit seinem Requiem das vielleicht bezwingendste Beispiel einer Totenmesse 1603 aus Anlass des Begräbnisses für Maria, der Schwester Phillips II. Im Responsorium ergänzen sich Gregorianik und dicht strömende 4-6 Stimmigkeit zu einer meditativen, harmonischen Einheit - vorbildgebend für eine Vielzahl von Kompositionen seiner Zeitgenossen. Neben den klassischen liturgischen Teilen wie Graduale, Offertorium und Responsorium erklangen während einer Totenmesse auch ergänzende Motetten wie das Versa est in luctum : Zur Trauer wurde mein Harfenspiel, mein Flötenspiel zum Klagelied. Lass ab von mir, Herr, denn nur ein Hauch sind meine Tage! Diesen Text setzte auch Alonso Lobo (1555-1617) für das Begräbnis Phillips II von Spanien in Töne um. Auch wenn Lobo oft im Schatten seines heute berühmteren Kollegen stand, sprechen seine Werke, die durchaus die Intensität Victorias oder Palestrinas besitzen, für sich. Jean Richafort starb, als Victoria bzw. Lobo geboren wurden und führt uns somit in die Zeit der frühen, frankoflämischen Renaissance, deren wichtigster Vertreter Josquin des Prés ist. Ob dieser wirklich der Kompositionslehrer von Richafort war, ist nicht eindeutig belegt. Auf eine enge, wertschätzende Beziehung lässt allerdings u.a. seine komplexe Missa pro defunctis schließen, die in verschiedenen Messteilen Zitate aus Werken von Josquin aufweist. Die hohe Kunst seines Schaffens beweist Richafort u.a. damit, dass er im Graduale zunächst das Circumdederunt me gemitus mortis, dann ein C`est douleur non pareille als Kanon in den dichten sechsstimmigen Satz einflicht, letzteres aus Josquins Chanson Faulte d`argent. Die Grenzen zwischen weltlicher und geistlicher Musik galten zu dieser Zeit ebensowenig wie unsere gewohnte Einteilung der klassischen Tonalität in Dur und Moll. Hart und weich stehen sich in der Fotographie Young girl Holding a flower von Marc Riboud gegenüber. Es entstand 1967 am Rande einer Anti-Vietnamkrieg-Demonstration in Washington D.C. und erlangte rasch ikonische Berühmtheit als Beispiel für gewaltfreien Protest. Es hält die Hoffnung wach auf Menschen und Momente, die Gräben überwinden oder vermeiden - auch mit einer Chrysantheme in der Hand einer 17Jährigen. Wir laden herzlich ein zu unseren Konzerten am Samstag, 25. November 2023 um 19:30 in der Herz-Jesu-Kirche Erlangen und am Sonntag, 26. November 2023 um 16:00 in Sankt Klara Nürnberg. Raimund Schuler Vokalensemble Josquin des Prés
|